Über dieses Buch:
Geschichten? Her damit, wenn sie spannend sind. Geschichte?
Zu museal. Zu sehr in den Händen selbst ernannter Deuter.
Dies verspricht Geschichte in Geschichten. Über etwas,
das ebenso verdammt kurz wie lang her ist: über die deutsche
Teilung. Erlebt. Durchlitten. Überwunden?
Mein
Spitzname in der Schule in Berlin (West) war „der Ostgote“.
Weil das Elternhaus in Berlin (Ost) war. Darin lag milder
Spott. Nicht die Schärfe, die in „Ossi/Wessi“
liegen kann. Begriffe, die kamen, als wir befrachtete Geografie
nicht mehr brauchten. In den Trümmern Berlins wurde ich
zum Pendler über 17 U-Bahn-Stationen und zwei Welten.
Dazu verhalf ein SED-Schulleiter, der Verrat beging aus pädagogischer
Überzeugung. Später dann die Mauer, ein beispielloses
Grenzsystem. Das Ich der Geschichten lässt einen zentnerschweren
Koffer in Berlin zurück. Ein Freund aus Kindertagen meldet
sich: ein Freigekaufter, der die Flucht am Bahnhof Friedrichstraße
versuchte: Der traurige Zwilling. Reisen von Deutschland nach
Deutschland sind mit hochnotpeinlichen Kontrollen und Visumzwang
verbunden. Die kleine Tochter stellt auf einer dieser Reisen
drei Fragen: „Papa! Warum ist hier alles so grau? Warum
sind hier so viele Soldaten und Polizisten? Warum können
mich meine Cousins nicht besuchen?“ Wie erklärt
man das?
Das Miterleben der Wendezeit, der euphorisch begrüßten
Einheit, der Ernüchterung nach dem Rausch – Blicke
zurück auf ein Geschehen, mit dem der Autor als Mann
der Fernseh-Nachrichten täglich zu ringen hatte. Am Ende
steht die Begegnung mit dem neuen Berlin.
(©
2004 Bodo Pipping)
Zum Autor:
Bodo Pipping ist Journalist, ein Berliner, der heute bei Bonn
lebt, Jahrgang 1938. Sein Leben lang war er Nachrichten-Redakteur,
bei der „Welt“, bei Tagesschau/Tagesthemen, bei
SAT 1, beim WDR, zuletzt bei Phoenix. Das hat ihn geschult,
seine Subjektivität so weit eben möglich zurück
zu drängen. Er ist der Erste, der zugibt, dass er als
Person nicht wichtig ist, wenn er die Geschichten eines, seines
Ichs erzählt. Aber doch hofft, sie runden sich zu einem
Stück Zeitgeschehen.
Textauszug:
Ausschnitt aus dem titelgebenden Kapitel "Der
traurige Zwilling“ - berichtet über seinen Fluchtversuch
im Bahnhof Friedrichstraße
„Es war auch Sommer,
als wir da waren. In den U-Bahnhof kommst du nicht, da ist
alles vermauert, die Züge fahren ohne Halt von West nach
West. Unter dem riesigen Kuppelbau gibt es die S-Bahn und
die Fernzüge. Die S-Bahnen von Ost nach Ost sind sehr
belebt. Nur ab und an gehen verstohlene Blicke über die
Gleise in die Ecke, wo die Westler ankommen und wieder abfahren.
Du erlebst Bilder von solcher Wucht ... aber ich hatte ja
meine Kamera nicht dabei. Da sind die Posten mit den Maschinengewehren
über den Schultern, die quer zu beiden Seiten des staubigen
Glas-Gewölbes schreiten. Manchmal, wenn einen Augenblick
lang der Lärm der Züge abebbt, kannst du ihre hallenden
Schritte hören, auf diesen Eisen-Gitterrosten. Ab und
an kämpft sich die Sonne durch die Schmutzschichten,
die Posten werfen riesige Schatten. Der dramatische Höhepunkt
aber ist bei den Fernzügen, wenn das einfährt, was
die Leute immer noch den „Interzonenzug“ nennen.
Er bringt Westler wieder zurück in ihre Heimatorte; auch
DDR-Rentner dürfen fahren zu Verwandten, immer in der
geheimen Hoffnung, dass die Alten, die nur kosten, nicht zurückkommen.
An der Bahnsteigkante, etwa einen Meter vor dem Gleiskörper,
ist eine weiße Linie aufgemalt. Wenn der Zug einfährt,
brüllt es aus den Lautsprechern: „Zurücktreten!
Bleiben Sie hinter der weißen Linie! Warten Sie auf
die Aufforderung zum Einsteigen!“ Wenn der Zug eingefahren
ist, kommen die Hundestaffeln. Abteil für Abteil wird
durchsucht, ob sich einer unter den Sitzen oder sonst irgendwo
verborgen hat.“
„Habt ihr es dort versucht?“
„Unsinn! Das ist schon
vorsortiertes Gelände. Dahin kommst du nur nach Vorlage
deiner Berechtigungs-Papiere. Nein, es musste im S-Bahn-Bereich
sein. Wir waren schon einige Male aufgefallen, weil wir nicht,
wie die Masse der Werktätigen, auf ein Ziel gerichtet
schienen. Irgendwann fassten wir uns ein Herz. Meine Verlobte
und ich, wir nahmen uns an den Händen, sprangen auf die
Gleise, rannten in Richtung West-S-Bahn. Meiner Freundin hatte
ich eingeschärft, wie sie die stromführenden Schienen
vermeiden sollte. Wir kamen nicht weit. Es muss eine koordinierte
Überwachung geben. Wir wurden so schnell und routiniert
abgeführt, dass es kaum ein Westler bemerkt haben dürfte.
Und die anderen, die gucken ohnehin weg.“
„Also wurdet ihr angeklagt
wegen Republikflucht?“
„Zum Glück im Unglück
nicht dem Wortlaut nach. Angewandt wurde der Universal-Paragraph
249: „Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung
und Sicherheit und asoziales Verhalten.“ Das ersparte
uns Bautzen. Wir wurden beide zu drei Jahren verknackt, nach
Hohenschönhausen. Meine Zucht bestand darin, bei der
Herstellung von riesigen Traktorenreifen schuften zu müssen.
Meine Freundin kam in die Glasindustrie, Fabrikation von Thermopane-Scheiben;
die müssen vor der luftdichten Versiegelung staubfrei
gemacht werden. In der Frauenabteilung wurde sie von einer
bulligen Aufseherin zur nächtlichen Begleitung auserkoren.
Sie hat es nicht ausgehalten. Bei der Glasindustrie fallen
Scherben an. Nach einem Jahr hat sie sich die Pulsadern aufgeschnitten.
Sie ist verblutet.“
Ich schwieg erschüttert. Nach einer Pause sprach Rudolf
weiter:
„Jetzt weißt du ein wenig davon, warum der Zwilling
so traurig ist ...".
(Text:
© Bodo Pipping)
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